Wohnen, wie es mir gefällt
Noch nie gab es so viele unterschiedliche Wohn- und Betreuungsformen für Menschen mit Behinderung. "Leben, wie es mir gefällt" wird zum Leitsatz der modernen Behindertenhilfe. Doch die staatlichen Anforderungen an das Wohnen für Menschen mit Handicap werden immer höher, der Kostendruck für Einrichtungen der Behindertenhilfe immer größer.
Dieser Text ist erschienen in GEMEINSAM 2/2018 mit dem Thema "Leben, wie es mir gefällt - Wohnen für Menschen mit Behinderung: Innovationen und Herausforderungen"
Auch wenn heute keine Post im Briefkasten ist, die Freude und der Stolz sind Steffi Mayer deutlich ins Gesicht geschrieben. Bislang hat sie in einer betreuten Wohngemeinschaft auf dem Gelände des Dominikus-Ringeisen-Werks in Ursberg gewohnt. Jetzt hat sie den Schlüssel zu ihrem eigenen Briefkasten in der Hand. Der ist an ihrem neuen Holzhaus angebracht. Es ist ein so genanntes Kleinsthaus, das „Tiny-Haus“ genannt wird. Darin stehen Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer
zur Verfügung. Auf ca. 30 Quadratmetern hat Steffi ihr eigenes Reich.
Allein wohnen – für Steffi ist das genau das Richtige. Denn hier kann sie sich so einrichten, wie sie will und muss nicht so viel Rücksicht auf andere nehmen wie in einer gemeinsam genutzten Wohnung. Thomas Bauer unterstützt sie im Alltag. Der Heilerziehungspfleger schaut zweimal die Woche bei Steffi vorbei. Er ist überzeugt vom Konzept der Tiny-Häuser: „Man lebt eigenständig, hat aber seinen gewohnten Sozialraum, die Arbeitsstelle und die Betreuungspersonen. Es ist ein geschützter Rahmen, in dem man selbstbestimmt leben kann“, sagt er.
Wohnungen für Menschen mit sehr großem Hilfebedarf
Raum zum Leben für eine ganz andere Zielgruppe enstand 2019 nur wenige hundert Meter entfernt in Ursberg. Die neuen Häuser St. Peter und St. Paul sind speziell für Menschen mit herausforderndem Verhalten konzipierte stationäre Wohneinrichtungen. Denn diese können nicht alleine leben und müssen rund um die Uhr betreut werden. Die zwei Häuser mit jeweils 28 Plätzen sind ausgestattet mit speziellen, bruchsicheren Materialien, die den besonderen Verhaltensweisen ihrer geistig behinderten Bewohnerinnen und Bewohner Rechnung tragen. Es sind erwachsene, mehrfach behinderte Menschen mit einem hohen Gefährdungspotential für sich und für andere. Sie benötigen die intensivste Betreuung, die die Behindertenhilfe kennt. Deshalb gibt es auch ein spezielles Anforderungsprofil für Mitarbeiter, die hier eingesetzt werden. Einrichtungsleiter Rainhard Maier erklärt das so: „Die Mitarbeiter müssen vor allem im Bereich des Deeskalationsmanagements gut geschult sein.“
Kreativität und Mut sind gefragt
„Kreativität und Mut sind auch gefragt, um spezielle räumliche Anforderungen umzusetzen und entsprechende Betreuungskonzepte zu entwickeln bzw. anzupassen. Empathie für die Betreuten und kollegiale Hilfe im Mitarbeiterteam sind ebenfalls sehr hilfreich, um zum Beispiel bei Fremdaggressionen besser reflektieren zu können und so die jeweiligen Situationen zu verarbeiten“, fährt der 31-Jährige fort und fügt hinzu, dass auch diese Menschen zum Auftrag des DRW gehörten: „Es ist eine Kernkompetenz des DRW, ein solch schwieriges Klientel zu betreuen. Außerdem heißt es in unserem Leitbild: ‚Jeder Mensch ist kostbar‘.“
Eine Fülle an Wohnangeboten
„Tiny-Häuser“ und die neuen stationären Einrichtungen St. Peter und St. Paul sind so etwas wie weit auseinanderliegende Pole der Behindertenhilfe – hier die weitgehende Selbstständigkeit, da eine sehr große Hilfsbedürftigkeit. Zwischen diesen Polen gibt es ein weiteres, großes Angebot des DRW, das vom Wohnen in Gastfamilien, in betreuten Wohngruppen oder in einer eigenen Wohnung über das Wohnen in einer Fachpflegeeinrichtung, dem Wohnen in einer Kinder und Jugendeinrichtung bis hin zum Wohnen im Alter reicht. Die Vielzahl unterschiedlicher Möglichkeiten ist das Ergebnis einer langjährigen Entwicklung. Die einzelnen Phasen dieser Entwicklung lassen sich bei einem Spaziergang über das Areal in Ursberg an vielen unterschiedlichen Fassaden ablesen, die hier im Laufe von mehr als einem Jahrhundert erbaut worden sind.
Epochen des Wandels im Wohnen
Da gibt es die großen Bauten aus der Gründerzeit, die vor allem Platz bieten mussten für Sammelunterkünfte für Menschen unterschiedlicher Hilfebedarfe. Zusammen mit den Menschen mit Behinderung lebten anfangs auch die Schwestern der St. Josefskongregation, die noch bis in die 1970er Jahre hinein in abgegrenzten Räumen mitwohnten. Die vorherrschende Situation damals: Der Schlafsaal mit jeweils etwa 20 bis 25 Personen. Das Haus St. Josef – das heutige Ringeisen-Gymnasium – steht exemplarisch für diese Epoche.
Ab etwa 1975 begannen große Umbau- und Erneuerungsphasen auf dem Ursberger Campus, die bis heute andauern. Standard wurde damals das Doppel- und Dreibettzimmer; die Wohngemeinschaften verkleinerten sich auf ca. 15 Personen. Ab dem Jahre 2000 dann ein weiterer tiefer Eingriff in die Bau- und Wohnstruktur der Einrichtungen: Ziel war die Verbesserung der Wohnsituation hin zu Einzelzimmern und weiteren Sanitärräumen.
Parallel zu den Weiterentwicklungen im Wohnen etablierten sich neue Betreuungskonzepte in der Behindertenhilfe. Ebenfalls zu Beginn der 2000er Jahre setzte die „Ambulantisierung“ ein. Wohnungen für Menschen mit Behinderungen wurden gebaut oder angemietet, um selbstständiges Wohnen zu ermöglichen. Ab etwa 2005 fand eine zunehmende Dezentralisierung von Wohnformen statt. Stationäre und ambulante Wohnangebote verlagerten sich von so genannten Komplexstandorten wie Ursberg hinein in umliegende Städte und Gemeinden. Für das Dominikus Ringeisen-Werk bedeutete dies zudem eine Zunahme an einzelnen Einrichtungen, die heute quer über die drei Regierungsbezirke Schwaben, Oberbayern und Unterfranken verteilt sind.
Wohnqualität: Eine wirtschaftliche Herausforderung
Mit den stärker ausdifferenzierten Hilfen für Menschen mit Behinderung kommen deren individuelle Bedürfnisse immer mehr zu Geltung. Und das macht sich insbesondere in einem der wichtigsten Lebensbereiche, dem Wohnen, bemerkbar. Innovationen in neuen Wohn- und Betreuungsangeboten kamen und kommen dabei aus der Behindertenhilfe selbst. Doch längst hat der Gesetzgeber unter dem Motto des Verbraucherschutzes eine Welle von Sanierungsmaßnahmen in Gang gesetzt, die Träger wie das DRW vor eine große wirtschaftliche Herausforderung stellen.
So erblickte im Juli 2011 eine staatliche Vorgabe mit dem komplizierten Kürzel „AVPfleWoQG – Ausführungsverordnung zum Pflege- und Wohnqualitätsgesetz” – das Licht der Gesetzeswelt. Das Einzelzimmer mit eigenem Bad wurde jetzt zum Wohnstandard. Genau 14 Quadratmeter beträgt die Mindestgröße eines Einzelzimmers ohne Flur; 6,16 Quadratmeter sollte eine Nasszelle mindestens groß sein. Für die erheblichen Investitionskosten, z. B. beim Umbau älterer Gebäude, gibt es zurzeit jedoch keine ausreichende staatliche Förderung. Die Träger müssen die erheblichen Sanierungskosten zunächst weitgehend selbst erwirtschaften. Und: Diese Regelung macht selbst vor recht neuen Gebäuden nicht Halt, die den Mindeststandard nur sehr knapp unterschreiten. „Wir rechnen mit ca. 100 Mio. Euro, um die Vorgaben der Ausführungsverordnung zum bayerischen Pflege- und Wohnqualitätsgesetz in den nächsten 20 Jahren zu erfüllen“, sagt Wolfgang Tyrychter, Leiter des DRW-Vorstandsbereichs „Teilhabe und Assistenz“. Der Zeitraum wird von Gesetz vorgegeben. „Wir rechnen eher damit, dass wir länger brauchen werden angesichts der Größe der Aufgabe“, so Tyrychter.
Zudem verändern sich durch die Vergrößerung der Zimmer die Gruppengrößen. Pro Haus können nach dem Umbau weniger Bewohner untergebracht werden. Das wiederum bedeutet, dass Einrichtungen zusätzliche Wohnflächen benötigen, um die Zahl der Bewohner halten zu können. Die Lösung kann oft nur wieder der Bau neuer Wohnungen in Städten und Gemeindensein, um die Bewohnerzahl und damit eine sinnvolle wirtschaftliche Auslastung gewährleisten zu können.
Eine logistische Höchstleistung
Das gilt genauso für die Fachpflegeeinrichtung am Standort Ursberg mit ihren zwei ältesten Häusern „Vinzenz“ und „Eduard“. In diesen beiden Gebäuden betreut sie ca. 120 Menschen mit Behinderung, die zusätzlich eine Pflegestufe haben. Die Angleichung der baulichen Standards an die Vorschriften be deutet hier eine logistische Höchstleistung. Binnen dreier Jahre mit dem Beginn des Umbaus, so rechnet Einrichtungsleiter Norbert Baur vor, soll dieses Großprojekt abgewickelt werden. „Der glückliche Umstand ist, dass das im Gebäudekomplex befindliche Haus Dominikus, das jetzt noch Menschen mit herausforderndem Verhalten bewohnen, frei wird, weil für diese Bewohner zwei neue Heime gebaut werden. Dieses Haus wird zuerst umgebaut und dann von den Bewohnern des Hauses Vinzenz bezogen. Dann wird Haus Vinzenz umgebaut und anschließend von den Bewohnern von Haus Eduard bezogen. Schließlich erfolgt der Umbau von Haus Eduard. Nach Abschluss des Projekts erfolgt ein teilweiser Rückzug von jeweils ca. 15 Bewohnern aus den Häusern Dominikus und Vinzenz in das Haus Eduard. Ungefähr 30 Bewohner müssen allerdings zweimal umziehen. Das wird uns die kommende Zeit ziemlich in Atem halten“, erklärt Nobert Baur.
Das BTHG ändert die Finanzierung
Das Bundesteilhabegesetz, seit 2017 in Kraft, setzt indes weitere Maßstäbe der Finanzierung von Betreuung und Wohnraum für Menschen mit Behinderung. Erstmals werden nämlich die Fachleistungen der Betreuung von den Maßnahmen zur Existenzsicherung, also den Kosten für den Lebensunterhalt, getrennt. Fortan wird der Kostensatz für eine herkömmliche Sozialwohnung zum Maßstab für die Bezahlung einer Wohnung für einen Menschen mit Behinderung herangezogen. Zwar gibt es Aufschläge für Spezialeinrichtungen wie „Dominikus“. Doch wird dies ausreichen, um den hohen Bedarf der hier lebenden Betreuten zu decken?
Die neuen Vorgaben für Wohn- und Betreuungskonzepte werden Träger der Behindertenhilfe in den kommenden Jahren sehr beschäftigen und herausfordern – insbesondere auf dem Gebiet der Wirtschaftlichkeit. Für das DRW gilt es, die besonderen Bedürfnisse von geistig behinderten Menschen in die Waagschale zu werfen und dabei zum einen den staatlichen Anforderung an die Wohnqualität und zum anderen denen der Kostenträger gerecht zu werden. Das scheint manchmal wie die Quadratur des Kreises.
Manuel Liesenfeld