Neue Blickwinkel auf Autismus

Eine Fachtagung des Dominikus-Ringeisen-Werks brachte Betroffene und Fachleute zusammen

Datum: 25. November 2022, 12:25 Uhr
Großes, bayernweites Interesse herrschte beim Fachtag zum Thema Autismus-Spektrum in Ursberg (Foto: Petra Nelhübel).

Ursberg / November 2022 – Kontaktunfähig, sozial unzugänglich und in merkwürdigen Ritualen verhaftet: Charakterzuschreibungen, wie sie häufig in Verbindung mit Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Symptomatik fallen. Bei der Fachtagung „BLICKWINKEL – Autismus Blick für Blick“, veranstaltet von der „Fachkonferenz Autismus“ und dem Referat Fortbildung des Dominikus-Ringeisen-Werks (DRW), wurde das Thema unter verschiedenen Aspekten beleuchtet, Vorurteile ausgeräumt und der Blickwinkel auf diese spezielle Symptomatik erweitert. Rund 130 Teilnehmende, Experten, Betroffene sowie Fachkräfte aus verschiedenen sozialen Einrichtungen in Bayern konnten verschiedene Workshops besuchen.

Christian Walter-Klose, Professor für „Behinderung und Inklusion“, sprach über das Bezugssystem Familie. Medizinische Aspekte und Diagnostik im Zusammenhang mit autistischer Symptomatik waren Mittelpunkt des Vortrags von Peter Brechenmacher, Chefarzt des Krankenhauses St. Camillus in Ursberg. Der Belgier Ludo Vande Kerckhove, der 15 Jahre lang ein Therapiezentrum geleitet hat, beschäftigte sich mit kognitiven Erklärungsmodellen.

Betroffene kamen zu Wort

Einen ganz persönlichen Einblick boten Tanja Jael Chvojan und Philipp Dietrich aus Basel – beide Autisten. In ihrem Workshop konfrontierten sie die Teilnehmenden mit einer Spielsituation, deren Regeln zwar eindeutig, aber komplex waren. Damit stifteten sie viel Verwirrung in der Gruppe. Die Teilnehmenden waren erst nach einigen Fehlversuchen in der Lage, der Spielanleitung zumindest teilweise Folge zu leisten. Wie Philipp Dietrich im Anschluss erklärte, sei diese Situation mit ihrer Fülle an Anforderungen, ihrer Informationsflut und der Notwendigkeit, den eigenen Platz im Gruppengefüge zu finden, vergleichbar mit der täglichen Erfahrung autistischer Menschen. „Und sie sollten dabei bedenken“, führte er aus, „dass der autistische Mensch in der Regel alleine gegen eine verständnislose Umwelt steht, während Sie alle eben gemeinsam in geselliger Runde verwirrt und orientierungslos waren.“

Wie lebt ein autistisches Paar?

In der darauffolgenden, lebhaften Fragerunde beantwortete das Paar sehr offen und humorvoll Fragen zu ihrem gemeinsamen Leben, zu der jeweils speziellen Ausprägung ihres Autismus und zu den Herausforderungen des Alltags. So erfuhren die Tagungsteilnehmenden, dass die 28-jährige Tanja ihre Diagnose bereits mit zwei Jahren bekommen hatte, während sie bei Philipp (29) erst mit 24 feststand. Beide besuchten eine heilpädagogische Sonderschule. „Das ist in der Schweiz üblich bei jeder Diagnose, die einen speziellen pädagogischen Bedarf aufzeigt“, erläuterte Philipp Dietrich. Inzwischen arbeitet das Paar als Vortragsredner. Tanja Jael Chvojan ist im Fachbereich Autismus Spektrum tätig. Philipp Dietrich arbeitet in der IT/Medien-Branche als Power-User mit überdurchschnittlichen Kenntnissen und Fähigkeiten.

Einblicke von Praktikern

Praktische Einblicke aus Sicht der Heilerziehungspflege gaben Martina Camenzuli und Erzieherin Nicole Rothmayer vom Dominikus-Ringeisen-Werk. Beide haben sich in ihrem jeweiligen Berufsfeld durch zahlreiche Aus- und Weiterbildungen auf die Arbeit mit Menschen aus dem autistischen Spektrum spezialisiert. Anhand eines Fallbeispiels aus der Praxis sollten die Tagungsteilnehmenden in Kleingruppen aufgeteilt einen strukturierten Tagesablauf erarbeiten, der den Klienten Orientierung und Sicherheit in einer für sie neuen Umgebung bieten sollte.

Die Welt mit anderen Augen sehen

Dass es sehr wichtig ist, sich in die Lebens- und Gefühlswelt eines autistischen Menschen versetzen zu können, um ihn zu verstehen, hatte Martin Riß in seinem Grußwort ausgedrückt. Der DRW-Vorstandsvorsitzende zitierte Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Ich möchte dazu ermutigen, auch zukünftig die Welt immer auch mit den Augen des anderen zu sehen, also auch manchmal die unbequemen und gegensätzlichen Perspektiven des Gegenübers wahrzunehmen, sich für den Ausgleich der Interessen einzusetzen.“

Links:

Professor Dr. Christian Walter-Klose

Die Website von Ludo Vande Kerckhove

Liebe und Autismus: Was bedeutet das für eine Beziehung? Ein Interview mit Tanja Jael Chvojan und Philipp Dietrich

Das DRW-Magazin GEMEINSAM mit dem Schwerpunkt "Autismus"

Beitrag teilen:

Weitere Beiträge

Lesen Sie weitere spannende Beitrage aus dem DRW