Digitale Assistenten für Menschen mit Hilfebedarf

Digitale Unterstützer werden häufig unter dem unpraktischen Begriff „Ambient Assisted Living“ (AAL) zusammengefasst. Dabei handelt es sich um ganz unterschiedliche Technologien. Forschungsabteilungen aus Wissenschaft und Industrie haben Produkte entwickelt, die das Leben unterstützen können.

Praktische Aspekte digitaler Technologien gibt es auch, um das Leben von Menschen mit Behinderung einfacher und effizienter zu gestalten. Experten sehen allerdings die Gefahr, dass die Vorteile der Digitalisierung nicht allen, z. B. Menschen mit Behinderung, gleichermaßen zugutekommen. Das liegt auch daran, dass diese Technologien bei den potentiellen Nutzerinnen und Nutzern häufig nicht bekannt sind. Manchmal werden diese Technologien auch Hilfstechnologien genannt. „Hilfstechnologie“ ist ein Sammelbegriff für Hilfsmittel zur Unterstützung, Umgebungsanpassung oder Rehabilitation von Menschen. Nicht nur Menschen mit Behinderung profitieren davon, sondern auch die breite Bevölkerung.

Beispielsweise helfen untertitelte Filme im Fernsehen oder Internet hörgeschädigten Menschen zu verstehen, was gesagt wird. Hilfsmittel können im Alltag oder am Arbeitsplatz eingesetzt werden. Technologien können aber auch die Arbeit von Beschäftigten in der Sozialwirtschaft unterstützen. Hilfeprozesse können durch Digitalisierung in der Diagnostik, bei der Beratung, in betreuten Wohnformen und in der Arbeitsassistenz in der Kommunikation und Therapie unterstützen. Hier sollen ausgewählte neuere Technologien, die vielleicht noch nicht so bekannt sind, kurz vorgestellt werden.

Digitale Hilsmittel stärken die gesellschaftliche und soziale Teilhabe von Menschen mit Assistenzbedarf.
Ingolf Rascher, Sozialwisschenschaftler und Gesundheitsökonom
APP für Menschen mit Sehbehinderung

Microsoft hat eine KI entwickelt (das Kürzel steht für „künstliche Intelligenz“ und für Anwendungen, bei denen Maschinen menschenähnliche Intelligenzleistungen wie Lernen, Urteilen und Probleme Lösen erbringen), um Menschen mit Sehbehinderung den Alltag zu erleichtern. Die jeweilige KI ist darauf trainiert, kurze Texte, Dokumente und Währungen, aber auch Barcodes oder Farben zu erkennen und den Nutzerinnen und Nutzern vorzulesen oder die sich dahinter versteckenden Informationen akustisch auszugeben.

Die App spricht Text, sobald er vor der Kamera erscheint. Audioanleitungen zum Erfassen einer gedruckten Seite erkennen den Text. Das Gerät erzeugt Signaltöne, um Barcodes zu lokalisieren, um das betreffende Produkt zu identifizieren. Die App erkennt zudem Freunde und beschreibt Menschen um sie herum, einschließlich ihrer Emotionen. Auch das Identifizieren von Geldscheinen und deren Währung bei Zahlung mit Bargeld ist möglich. Die App ist kostenfrei und kann im Appstore unter dem Namen „Seeing AI-Sprechende Kamera für Sehbehinderte“ heruntergeladen werden.

https://www.microsoft.com/de-de/ai/seeing-ai

Augensteuerung

Mit dieser Technologie können Menschen mit Behinderung allein mit ihren Blicken einen Cursor auf dem Bildschirm bewegen und den Computer ähnlich wie mit einer Maus oder einem Touch-Screen bedienen. Es gibt auch Augensteuerungssysteme für den direkten Anschluss an den Computer. So können Menschen mit schweren motorischen Einschränkungen im Internet surfen, soziale Medien nutzen, Spiele spielen, Dokumente erstellen und vieles mehr.

https://de.tobiidynavox.com

YANNY – der persönliche Assistent

„YANNI“ ist ein humanoiden Roboter zur Kommunikationsassistenz und zur Alltagsunterstützung. Yanny wird z. B. eingesetzt bei Kindern und jungen Erwachsenen mit Autismus-Spektrum-Störung. Roboter sind die perfekte Kombination: Sie sind sozial genug, damit Kinder und Jugendliche auf sie reagieren. Aber sie sind nicht so sozial, dass sie einschüchtern. Es gibt auch Programme für Menschen mit demenziellen Veränderungen. 

Möglich ist eine Unterstützung bei der Tagesstruktur wie morgendliches Wecken, nach dem Wohlbefinden fragen, Erinnerung an Medikamente, Termine und Trinken. Möglich sind auch Spiele zur Aktivierung. Die Sensoren erkennen Gesichter bzw. Gegenstände und es gibt zahlreiche Sprachbefehle. Auch TEACCH Pläne für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung als Ergänzung visueller Tagespläne sind möglich. Durch einen Plan weiß das Kind, wann es wo sein soll und was von ihm erwartet wird. Spezielle Programme können die Eigenverantwortung anregen und Unabhängigkeit fördern. Auch Biographiearbeit für Menschen mit demenziellen Erkrankungen können genutzt werden.

https://www.robotik-pflege.de

Die AR-Pflegebrille

Bei der „Augmented-Reality-Technologie“ (AR) werden virtuelle Objekte in einer unmittelbaren realen Umgebung sichtbar. In Anwendungen, die unter dem Namen „Pflegebrille“ bekannt sind, tragen Pflegende eine Datenbrille während der Arbeit mit den Klienten und können sich währenddessen verschiedene Informationen direkt ins Sichtfeld einblenden lassen. Zur Steuerung der Brille müssen sie die Arbeit nicht unterbrechen, da durch eine intuitive Gestensteuerung die Hände frei bleiben. Diese Technologie kann von professionell Pflegenden eingesetzt werden.

Eine weitere Einsatzmöglichkeit dieser interaktiven Technologien ist es, zwischenmenschliche Verbundenheit zu ermöglichen. Es handelt sich um die Ko-Präsenz zweier Menschen mit Avataren (künstlichen Abbildern) in Augmented Reality (räumlich entfernt, aber mit dem Gefühl, am gleichen Ort zu sein). So sind das gemeinsame Schachspiel, Singen, Gruppenspiele mit realen und virtuellen Figuren, gemeinsames Kaffeetrinken mit virtuellem Geschirr möglich.

Damit der Avatar auch lebensecht ist, kann man sich bei einer bekannten Elektronikmarktkette in Deutschland diese anfertigen lassen. Der Avatar (Sohn, Enkelkind, andere Verwandte, Bekannte oder Betreuer) ist sehr realitätsgetreu mit einer Genauigkeit von einem Millimeter. Eingesetzt werden diese Programme zur Unterstützung sozialer Aktivitäten. So haben beispielsweise die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie gezeigt, dass (ältere) Menschen weniger Besuch erhalten und unter der Einsamkeit leiden. Hier können Technologien wie Augmented Reality und Virtuell Reality (VR) positive Effekte haben. In einigen Stadtbüchereien kann man sich VR-Brillen mit Programmen ausleihen.

https://www.aal-akademie.de

Hidrate Spark 3

Ältere Menschen und Demenzkranke vergessen oft das Trinken. Smarte Trinkflaschen erinnern durch entsprechende Beleuchtung daran, wieder einmal Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Die Sensortechnologie verfolgt die Wasseraufnahme und synchronisiert den Trinkfortschritt mit einer kostenlosen App über Bluetooth. Dazu benötigt man ein Smartphone. Sensoren steuern die Leuchten in der Flasche, um daran zu erinnern, mehr Wasser zu trinken, entweder in regelmäßigen Abständen oder wenn das tägliche Trinkziel noch nicht erreicht ist. 

https://hidratespark.com

Tunstall iVi

„Tunstall iVi“ ist ein intelligenter Funksender mit Falldetektor und Trageerkennung. Eine Ruftaste dient zum manuellen Auslösen von Notrufen. Eine integrierte, intelligente Sturzerkennungstechnologie dient zur automatischen Auslösung von Notrufen bei Stürzen. Bevor das System einen Notruf bei Sturz auslöst, gibt er für zehn Sekunden eine Tonfolge aus und die Kontrollleuchte leuchtet grün (Voralarm). Das gibt dem Benutzer die Möglichkeit, einen Sturznotruf zu verhindern, indem er die Abstelltaste drückt.  Das System ist auch mit Hausnotrufsystemen kombinierbar.

https://www.tunstall.com/de

Fazit

Der Nutzen von digitalen bzw. technischen Hilfsmitteln zeichnet sich in vielfacher Weise ab, indem sie die soziale und gesellschaftliche Teilhabe, insbesondere die Selbstständigkeit von Menschen stärken, fördern oder überhaupt erst möglich machen können.  Bei Technologien ist eine Beratung hilfreich.  In der Regel werden sie noch nicht von den Krankenkassen vergütet. Einige Technologien wie Sturzerkennungssysteme sowie Ortungssysteme mit integriertem Notruf oder Hausnotrufsysteme könnten als Pflegehilfsmittel erstattet werden.  Informationen zu diesen und weiteren Technologien gibt es unter unter www.gutepflege.digital.

Der Autor

Ingolf Rascher ist Sozialwissenschaftler und Gesundheitsökonom sowie Vorstand der AAL Akademie, www.aal-akademie.de.

Er beschäftigt sich auf dem Feld „Digitalisierung und gesundheitspolitische Fragestellungen“ mit den Fragestellungen: „Welche Auswirkungen sind durch Digitalisierung für den traditionellen Bereich der medizinischen und pflegerischen Versorgung für den Gesundheitsmarkt zu erwarten?“ „Führt Digitalisierung zur Entsolidarisierung des Gesundheitssystems und damit zu gesellschaftlich unerwünschter Kommerzialisierung?“ „Wie können die angestrebte Partizipation der Nutzer und Verbraucherkompetenzen, die mittels der Digitalisierung im Gesundheitswesen angestrebt wird, erreicht werden?“ „Was heißt ‚Gute Arbeit‘ mithilfe der Digitalisierung für die Beschäftigten?“