Ursberg – Den bedeutenden Theologen und Schriftsteller Joseph Bernhart persönlich anzusprechen, die Gelegenheit dazu bot sich Theo Waigel öfters. Bernhart war 1881 in Ursberg zur Welt gekommen und 1969 in Türkheim gestorben. Heute bedauere er es sehr, seinerzeit keine der Möglichkeiten genutzt zu haben, erklärte der ehemalige Bundesfinanzminister bei seiner Lesung aus Werken von Joseph Bernhart im gut gefüllten Saal des Klosterbräuhauses Ursberg. Er habe den älteren Herrn mehrfach in Ursberg herumlaufen gesehen, hatte aber Scheu, auf ihn zuzugehen. Eine seiner Lehrerinnen hätte ihn mit folgender Bemerkung auf Joseph Bernhart aufmerksam gemacht: Das sei ein außerordentlich gescheiter Mensch, so gescheit, dass er Bücher schreibe, und zwar solche, die kaum ein Mensch verstehe. In der Tat, die meisten Bücher von Bernhart sind schwere Kost, aber gerade deswegen hatte Theo Waigel die Lesung angesetzt. Er wollte einmal die andere, die humorvolle und heimatverbundene Seite von Joseph Bernhart aufzeigen. Die Geschichten, die in Bernharts Buch „Von allerhand Käuzen und Schlitzohren“ zusammengestellt sind, eignen sich dafür in beiderlei Hinsicht. Das gilt insbesondere die ersten beiden, denn diese spielen in Bayersried und in Thannhausen und sie lesen sich ausgesprochen leicht und amüsant.
Held der ersten Geschichte, die Theo Waigel las, der übrigens während der Lesung in Joseph Bernharts Lehnstuhl saß, der im Kloster Ursberg aufbewahrt wird, war Andreas Rinn, ein entfernt Verwandter des Autors. „Vetter Andres“, wie er im Buch genannt wird, war ein begeisterter Musiker. Er besaß 23 Instrumente, die er alle spielte. Musiker sind meist gesellig und wissen einen guten Tropfen zu schätzen. Und so beginnt die erste Episode der Geschichte im Klosterbräuhaus Ursberg, wo „Meister Andres“ nach einer Beerdigung ein wenig zu viel trinkt und beim Abgang aus Versehen nach einem falschen Zylinder und einem falschen Mantel greift. Das Missgeschick bemerkt er erst, als es auf dem Heimweg heftig zu regnen beginnt und er, um sich, sein Instrument und die fremden Kleidungsstücke ins Trockene zu retten, den Stadl des Kübelwirts aufsucht. Er übersieht dabei jedoch, dass die Tür sich nur von außen öffnen lässt... Reizvoll war es für das lokale Publikum, dass weder die Figuren noch die Orte dieser Geschichten erfunden sind, dass hier auf liebevolle Weise originelle Vorfahren porträtiert und ihre Erlebnisse in Literatur transformiert werden. Das galt auch für die zweite Geschichte in der ein Bürgermeister einen Nachtwächter sucht. Auch die Hauptfigur dieser Geschichte hat ein reales Vorbild. Es handelt sich um den Kaminkehrermeister Johann Rinn, der von 1882 bis 1899 Bürgermeister von Thannhausen war.
Wer genau hinhörte, hatte während der Lesung seine helle Freude an der leisen Ironie, die wie ein edles und feines Unterfutter den wertvollsten Teil dieser Geschichten ausmacht. Vergnügen an diesen Geschichten, das empfand der Vortragenden reichlich. Theo Waigel verfügt über eine markante und tragfähige Stimme. Er findet mühelos ein ideales Lesetempo, akzentuiert klar und moduliert geschickt. An einer Stelle, da Bernhart etwas zu dick auftrug über das Verhältnis von Schönheit und Intelligenz der Frauen, merkte Waigel an: „Könnte man heut so nicht mehr schreiben.“ 1972, also drei Jahre nach dem Tod Joseph Bernharts, als Theo Waigel erstmals ein Buch von Joseph Bernhart las, sei er fasziniert gewesen, wie gekonnt und liebevoll der Autor seine schwäbische Heimat darstellte. Es sei, so Theo Waigel, der Beginn einer lebenslangen und gewinnbringenden Beschäftigung mit diesem Autor geworden. Theo Waigel ist Protektor der Joseph-Bernhart-Gesellschaft und trug erheblich dazu bei, die Neueditionen der Werke Bernharts zu finanzieren, indem er seine Vortragshonorare dafür zur Verfügung stellte. Auch bei der Ursberger Lesung verzichtete er auf das Honorar. Der Erlös des Abends kam dem Förderverein Dominikus-Ringeisen-Werk zugute, der Bewohner der Einrichtung unterstützt, die über ein nur sehr geringes Einkommen verfügen.
Text: Dr. Heinrich Lindenmayr