Ursberg / 4. April 2023 – Krieg in Europa: Vor über einem Jahr wurde die Ukraine von Russland angegriffen. Seitdem werden Häuser zerbombt, die Infrastruktur schwer beschädigt und viele Menschen sind auf der Flucht. Mittendrin im März 2022: Viktoria Putina, Leiterin eines Kinderheimes im ukrainischen Krywyi Rih. Als die Lage für sie und ihre Kinder nahe der Frontlinie im Südosten des Landes lebensbedrohlich wird, sieht sie nur noch eine Chance: Flucht.
Nachdem endlich Hilfsorganisationen wie die Caritas sowie polnische und deutsche Behörden Hilfszusagen gegeben haben und mit Ursberg ein Zufluchtsort in Deutschland gefunden ist, beginnt eine gefährliche Fahrt für die 82 körperlich teils stark eingeschränkten jungen Menschen zusammen mit 12 Betreuungskräften und deren Angehörigen; rund 120 Personen machen sich auf den Weg. Zunächst geht es in schier unendlichen Stunden im Evakuierungszug durch die Ukraine bis zum Erstaufnahmelager in Polen. Die Gruppe besteht aus weinenden, völlig verängstigten und dehydrierten Kindern. 23 von ihnen können nur liegend transportiert werden. In Polen wird die Gruppe geteilt und mit Flugzeugen nach München und Memmingen sowie mit Bussen weitertransportiert. Anfang April endlich kommen die Flüchtenden im Dominikus-Ringeisen-Werk an und beziehen ein eigens ertüchtigtes Haus.
Eine Erfahrung von hohem Stellenwert
DRW-Mitarbeiter Wolfgang Unger, damals zuständig für die Evakuierung, reiste mit Eugen Telnykh, gebürtiger Ukrainer und Arzt im medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) des DRW, nach Polen, um die Gruppe in Empfang zu nehmen und die erste medizinische Versorgung der Kinder und Jugendlichen durchzuführen. „Diese Erfahrung hat einen hohen Stellenwert für mich, weil sie mir gezeigt hat, zu welchen Leistungen Menschen aber auch das DRW als Organisation fähig sind. Auf der einen Seite sind die Kinder, die während der Flucht so tapfer und genügsam waren. Auf der anderen Seite sind die Betreuerinnen und nicht zuletzt die Mitarbeitenden des DRW, die kollektiv die Integration der Geflüchteten so gut gemeistert haben“, sagt er.
Zusammenhalt der Hilfsorganisationen
Auch Michael Joas, Kommandant der Schwestern- und Werkfeuerwehr des DRW erinnert sich: „Der Einsatz war gut vorbereitet und es war schön zu sehen, wie gut der Zusammenhalt innerhalb der Hilfsorganisationen funktionierte. Auch wenn sich kurzfristig neue Herausforderungen ergaben, haben die Helfer hochmotiviert und flexibel reagiert.“
Seit über 30 Jahren nicht erlebt
Ähnlich sieht es Daniel Freuding, Kreisgeschäftsführer des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK) Günzburg. „Wir waren unter anderem mit 30 Rettungswagen aus ganz Schwaben am Flughafen Memmingen im Einsatz. Es sind genau solche Einsatzlagen, die wir besonders gut beherrschen. Beeindruckt hat mich die große Einsatzbereitschaft unseres Personals aus allen Kreisverbänden. Dabei waren auch leitende Mitarbeiter als einfache Helfer vor Ort. Alles in allem habe ich so etwas in meiner über 30-jährigen Zeit beim BRK nicht erlebt.“
Lachen, tanzen, essen
Sowohl am Flughafen München als auch am Allgäu-Airport Memmingen wartete Schwester Katharina Wildenauer, Generaloberin der St. Josefskongregation, um den Weitertransport der Kinder nach Ursberg zu begleiten. Beide Male sehr eindrucksvoll schien ihr die Stille der Menschen bei der Ankunft: „Lärm machten die Maschinen, nicht die Menschen.“ Ebenfalls bemerkenswert erscheint ihr heute, wie schnell die Kinder das Gefühl des Fremdseins überwunden haben. Damals ergriff ein Mädchen noch zögernd ihre Hand, um „langsam in diese neue Welt, die ein sicheres Zuhause werden sollte“, einzutauchen. Aber schon wenige Monate später im Sommer bei einer erneuten Begegnung erlebte Sr. Katharina: „Sie tanzen, sie lachen, sie essen. Sie kommen auf mich zu und geben mir die Hand, laden mich ein, mit ihnen zu spielen: vorbei ist die Trauer, die Zuversicht wächst.“
„Das hat unser Leben bereichert“
Unter den freiwilligen Hilfskräften war auch Peter Kapfer, der vor seinem Eintritt in den Ruhestand erst wenige Wochen zuvor Einrichtungsleiter im DRW war. Gemeinsam mit Ehefrau Margit hatte er maßgeblichen Anteil an der Organisation der ersten Wochen in Deutschland. Als tatkräftige, ehrenamtliche Helfer blicken sie heute zurück: „Dieser Einsatz hat unser Leben sehr bereichert. Dabei zeigte sich, dass, wenn viele miteinander ein Ziel verfolgen, es auch zu erreichen ist. Wir durften mit anderen zusammen anpacken und damit direkte Hilfe leisten. Dieses Erlebnis gibt uns die Hoffnung, dass wir in Deutschland die Herausforderungen unserer Zeit gemeinsam bewältigen können.“
„Das war Evangelium pur“
„Das war Evangelium pur“, ergänzt Martin Riß, Geistlicher Direktor des DRW, der vor einem Jahr ebenfalls mit anpackte und die Flüchtenden willkommen hieß. „Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf, sagt Jesus Christus. Die Evakuierung konnte vollbracht werden, weil viele Helferinnen und Helfer ihre Begabungen eingebracht und aus Nächstenliebe gehandelt haben. Teil einer solch fürsorgenden Gemeinschaft zu sein, schenkt Kraft, Mut und Zuversicht.“
Unendlich dankbar
Viktoria Putina, die Leiterin des Kinderheims, sagt: „Ich werde diese Zeit der Flucht und der Ankunft hier in Ursberg nie vergessen. Damals wussten wir nicht weiter und alles war neu und beängstigend. Heute bin ich sehr zufrieden und unendlich dankbar. Den Kindern geht es gut und wir fühlen uns sehr wohl. Ich möchte allen Helferinnen und Helfern und dem ganzen DRW danke sagen für all die Unterstützung, die Hilfe und das Verständnis.“
Aus Angst wurde Freude
Kraft, Mut und Zuversicht – Worte, die für die neunjährige Warwara inzwischen mit neuem Leben gefüllt sind. Stolz zeigt sie in ihrer Wohngruppe „Kleine Prinzessin“ ihre Fortschritte im Hantieren mit der Schere und im Bemalen von Ostereiern. Ihre Freundin, die elfjährige Alina, wird immer sicherer im Rechnen und Schreiben. Malen, basteln und Puzzle spielen sind ihre liebsten Freizeitbeschäftigungen. Etwas weiter denkt bereits die 15-jährige Vika. Sie kann es gar nicht erwarten, endlich in einer der DRW-Werkstätten arbeiten gehen zu dürfen. Ihre gleichaltrige Freundin Katja freut sich: „Ich habe endlich eine Brille bekommen. Jetzt kann ich noch besser basteln. Das mache ich am liebsten.“ Aus den flüchtenden, verängstigten Kindern von damals sind fröhliche Menschen geworden.
Das „Tagebuch der Evakuierung“ gibt es hier: DRW Gemeinsam - 02/2022