Liebenswert – und als „unwert“ umgebracht

Holocaustgedenktag am 27. Januar: Wie eine Angehörige auf die Spur ihres ermordeten Urgroßonkels aus Ursberg kam und welche Forderung das Dominikus-Ringeisen-Werk an die Politik stellt

Datum: 23. Januar 2025, 8:41 Uhr
Ein Leben in Würde und Teil einer Gemeinschaft: Menschen mit Behinderung im Dominikus-Ringeisen-Werk Anfang des 20. Jahrhunderts. Nur wenige Jahre später werden sie mit brutaler Härte von den Nazionalsozialisten verfolgt und ermordet.
Menschen mit Behinderung galten für die Nationalsozialisten als unproduktiv und finanzielle Belastung für die Gesellschaft. Das Bild zeigt die Korbflechterei des Dominikus-Ringeisen-Werks Anfang des 20. Jahrhunderts. Dort war auch Dominikus Harnauer tätig.

Ursberg / 23. Januar 2025 / Der 27. Januar erinnert weltweit an die Opfer des Holocaust. An diesem Tag im Jahr 1945 befreiten amerikanische Soldaten das Konzentrationslager Auschwitz. Erinnert wird auch an rund 250.000 Menschen, die von den Nationalsozialisten aufgrund einer Behinderung oder einer psychischen Erkrankung ermordet wurden. Zu dieser Gruppe gehören 379 Menschen mit Behinderung aus verschiedenen Einrichtungen des Dominikus-Ringeisen-Werks (DRW), die Opfer des Nazi-Euthanasie-Programms T4 geworden sind. Bis heute fehlt eine offizielle Anerkennung als Verfolgte des NS-Regimes.

Dominikus Harnauer, geboren am 26. Oktober 1873 in Mündling, einem Ortsteil der Stadt Harburg im Landkreis Donau-Ries ist eines der Opfer. Ein ärztliches Zeugnis von 1895 attestiert ihm eine leichte geistige Behinderung, „Anfälle von mittlerer Intensität“ und einen „gutmütigen Charakter“. Seit seinem 22. Lebensjahr lebte er in den Einrichtungen der St. Josefskongregation in Ursberg. Seine Zeitgenossen beschrieben ihn als ruhigen und freundlichen Menschen, der die Gesellschaft seiner Mitmenschen genoss.  Arbeit fand er in der Gärtnerei, im Gartenbau, in der Landwirtschaft, in der Sägerei und zuletzt in der Korbmacherei in Ursberg. Seine Schwester Maria hielt lebenslang Kontakt zu ihrem Bruder. 

Ein Leben in Würde

Dominikus Harnauer führte ein Leben in Würde, als Teil einer Gemeinschaft, in der er Fürsorge, Arbeit und Auskommen fand. Die Nationalsozialisten kamen jedoch zum gegenteiligen Urteil über ihn. Sie stuften sein Leben vielmehr als unproduktiv und unwert ein. Für sie war Harnauer lediglich eine Belastung für die Gesellschaft. Im November 1940 wurde er gegen seinen Willen vom „Landesfürsorgeverband Schwaben“ zunächst in die „Heil- und Fürsorgeanstalt“ Kaufbeuren/Irsee gebracht und später in die Tötungsanstalt Schloss Hartheim bei Linz deportiert. Dort wurde er am 4. Juni ermordet. 

Erinnerung an einen Verwandten

Claudia Schöggl (63) aus der Nähe von Stuttgart will dafür sorgen, dass das Gedenken an Dominikus Harnauer erhalten bleibt. Auf der Suche nach ihrer Familiengeschichte stieß sie in der Liste der Euthanasieopfer im Bundesarchiv auf ihren Urgroßonkel: Dominikus Harnauer aus Ursberg. „Diesen Namen gibt es nicht so häufig und mir kam gleich der Verdacht, dass es sich möglicherweise um einen Verwandten handeln könnte, da meine Großmutter eine geborene Harnauer war“, erzählt sie. Ihre Recherchen bestätigten ihre Vermutung. Unterstützung erhielt Claudia Schöggl von Rupert Vinatzer, der sich im DRW um Anfragen von Angehörigen zu Opfern der Euthanasie kümmert. So hat sie außerdem erfahren, dass ihr Urgroßonkel aufgrund seiner Einschränkungen fast 46 Jahre seines Lebens in Ursberg verbracht hat. 

„Schmerzliche Hergabe der Schutzbefohlenen“ 

Rupert Vinatzer liegt auch ein Schreiben der Ursberger St. Josefskongregation vor, das im November 1940 an die Schwester von Dominikus Harnauer verschickt wurde. Darin bedauern die Schwestern mitteilen zu müssen, dass der „Landesfürsorgeverband“ verfügt hatte, Dominikus Harnauer in die „Heil- und Pflegeanstalt“ Kaufbeuren/Irsee zu überstellen. In diesem Brief ist zu lesen: „Die Hergabe unserer Schutzbefohlenen ist uns, wie Sie sich sicher denken können, schmerzlich, aber Sie verstehen, dass wir uns in die behördlichen Anordnungen zu fügen haben.“ Claudia Schöggl tröstet es, zu wissen, dass Dominikus Harnauers Schwester Maria versuchte, nach seiner Deportation den Briefkontakt zu ihrem Bruder aufrecht zu erhalten und ihm Pakete schickte: „Es ist schön, dass sich jemand um ihn sorgte und dass er seiner Schwester wichtig war.“ In Irsee soll im kommenden Frühjahr auf ihr Betreiben hin für Dominikus Harnauer ein Stolperstein als kleines aber kraftvolles Denkmal gegen das Vergessen gesetzt werden.

Bis heute keine Anerkennung als Opfer

Aufgrund ihrer eigenen körperlichen und psychischen Einschränkungen fühlt sich Claudia Schöggl ihrem Urgroßonkel sehr verbunden: „Allein daran zu denken, dass ich aufgrund von möglichen Verschiebungen in unserer politischen Landschaft ein ähnliches Schicksal erleiden könnte wie mein Urgroßonkel, bringt ihn mir emotional noch einmal näher.“ Für sie ist es eine Schande, dass die Opfer des Euthanasieprogramms bis heute nicht offiziell als Verfolgte des NS-Regimes anerkannt wurden. Das ist auch für Wolfgang Tyrychter, Vorstandsmitglied des Dominikus-Ringeisen-Werk und Vorsitzender des Caritas Fachverbands „Behindertenhilfe und Psychiatrie“ nur schwer erträglich. „Die Anerkennung der Euthanasie-Opfer war im Koalitionsvertrag der scheidenden Bundesregierung festgeschrieben. Bisher wurde diese nicht umgesetzt. Wir fordern die zukünftige Regierung auf, dies rasch zu tun, um das Leid der Betroffenen und der Angehörigen endlich angemessen zu würdigen.“ 

Orte der Erinnerung und des Gedenkens

In Ursberg erinnern die Mahnmale im Klosterhof und auf dem Klosterfriedhof, der Gedenkort im Klostergarten sowie die namentliche Auflistung aller 379 Opfer im Klostermuseum an eine Zeit, die sich nie mehr wiederholen darf. Auch in Maria Bildhausen (Unterfranken) erinnert ein Mahnmal an die Menschen, die von den Nationalsozialisten auf grausame Art und Weise ermordet wurden. Am Sonntag, 26. Januar wird um 10 Uhr ein weiteres Mahnmal in Kloster Holzen (Landkreis Augsburg) enthüllt. Auch aus dieser Einrichtung wurden Menschen verschleppt und ermordet. 

Unter folgendem Link berichten wir über die schrecklichen Ereignisse während des NS-Regimes: https://drw.de/ueber-uns/unsere-geschichte/zeit-der-gefahr

 

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